Donnerstag, 7. Februar 2008

Die Städte und der Himmel

In Eudossia, das sich nach oben und nach unten erstreckt mit seinen winkeligen Sträßchen, Treppen, Sackgassen, Elendshütten, bewahrt man einen Teppich auf, auf dem du die wahre Gestalt der Stadt betrachten kannst. Auf den ersten Blick scheint nichts weniger Eudossia zu gleichen als die Zeichnung des Teppichs, eine Anordnung symmetrischer Figuren, die an Geraden und Kreisen entlang ihre Motive wiederholen, und gewoben aus Wollle schönster Farben, deren abwechselnden Verlauf du auf dem ganzen Gewebe verfolgen kannst. Verweilst du aber und betrachtest ihn aufmerksam, wirst du dich davon überzeugen, dass einer jeden Stelle des Teppichs eine Stelle in der Stadt entspricht und dass alle in der Stadt vorhandenen Dinge in der Zeichnung enthalten sind, geordnet nach ihren wahren Beziehungen, die deinem vom Hinundher, vom Gewimmel, vom Gedränge abgelenkten Auge entgehen. Das ganze Durcheinander von Eudossia, Eselsralen, Rußflecken, Fischgeruch, erscheint dir nur in der Teilperspektive, die du erfaßt; der Teppich aber beweist, dass es einen Punkt gibt, von wo aus die Stadt ihre wahren Proportionen, das geometrische Schema in jeder ihrer kleinsten Einzelheiten zeigt.

Man kann sich leicht verirren in Eudossia; doch wenn du dich darauf konzentrierst, den Teppich fest anzusehen, erkennst du die Straße, die du gesucht hast, in einem cremefarbenen oder indigoblauen oder amarantfarbenen Faden, der dich über einen langen Umweg in ein purpurnes Feld führt, dein eigentliches Ziel. Jeder Einwohner von Eudossia vergleicht an der unbeweglichen Ordnung des Teppichs eins seiner Bilder von der Stadt, eine seiner Ängste, und jeder kann eine in den Arabesken versteckte Antwort finden, die Erzählung seines Lebens, die Wendungen des Schicksals.

Über den geheimnisvollen Zusammenhang zwischen zwei so verschiedenen Dingen wie Teppich und Stadt hat man ein Orakel befragt. Das eine der beiden - lautete die Antwort - hat die Form, die von den Göttern dem gestirnten Himmel und den Bahnen verliehen wurde, auf denen die Welten kreisen; das andere ist nur ein annähernder Abglanz, wie jedes Menschenwerk.

Die Auguren waren sich seit langem sicher, dass die harmonische Zeichnung des Teppichs göttliches Werk sei; in diesem Sinne wurde das Orakel ausgelegt, ohne dass man Zweifel daran hätte aufkommen lassen. Doch ebensogut kannst du die entgegengesetzte Schlussfolgerung ziehen: dass die wahre Karte des Universums die Stadt Eudossia sei, wie sie ist, ein Klecks, der sich formlos ausbreitet, mit lauter kreuz und quer verlaufenden Straßen, Häusern, die eins über dem andern in dicken Staub stürzen, Feuersbrünsten, Schreien im Dunkel.

Italo Calvino - Die unsichtbaren Städte

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